Meinung

NATO überfordert: Wird Kiew sich die Mitgliedschaft herbeireden?

Kiew will die NATO-Mitgliedschaft, ohne den üblichen Beitrittsweg zu absolvieren. Auf hoher Ebene haben ukrainische Vertreter erklärt, dass sie dies auf dem kommenden NATO-Gipfel einfordern werden. Bekommen sie, was sie wollen, oder erhalten sie eine Absage?
NATO überfordert: Wird Kiew sich die Mitgliedschaft herbeireden?© Jonathan Ernst/Pool Photo via AP

Von Wladimir Kornilow

Die Ukraine hat ein neues Ziel. Genauer gesagt, ist es das alte Ziel – der NATO beizutreten. Doch nun haben ukrainische Politiker auf verschiedenen Ebenen einvernehmlich begonnen, eine neue Aufgabe zu formulieren, um dies zu erreichen. Sie wollen der NATO beizutreten, ohne den vorgesehenen sogenannten MAP (engl. Membership Action Plan) – den Aktionsplan für die Mitgliedschaft – zu nutzen, um den Kiew den Westen seit dem Jahr 2008 anfleht. Die Ukrainer möchten dies traditionell auf dem nächsten NATO-Gipfel einfordern, der im Juli in Vilnius stattfinden soll.

Diese Aufgabe wird als so wichtig angesehen, dass der ukrainische Machthaber Wladimir Selenskij in seiner Ansprache in der Osternacht davon sprach. Statt den orthodoxen Christen Ostergrüße zukommen zulassen, erklärte er ihnen, wie er auf dem Gipfel in Vilnius "Sicherheitsgarantien" erkämpfen werde. Besonders deutlich wurde der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba dazu, der in den vergangenen Tagen buchstäblich aus dem Nähkästchen geplaudert hat, wie und wann die Ukraine in das Bündnis aufgenommen werden soll.

Er war es, der erklärte, dass "die Frage des MAP von der Tagesordnung gestrichen ist" und Kiew auf dem Gipfel in Vilnius lediglich eine "Formalisierung der Entscheidung" über den Beitritt der Ukraine erwartet. Der Minister warnte sogar, dass sich die Ukrainer nicht mehr mit leeren Worten über das "Offenhalten der NATO-Tür" zufriedengeben würden. In einer Rede in der vergangenen Woche ermahnte Kuleba seine westlichen Gönner eindringlich:

"Wenn die Verbündeten beschließen, in der Frage der NATO-Mitgliedschaft in Vilnius einfach zum 130. Mal die Politik der offenen Tür zu bestätigen, ist das ein inakzeptables Ergebnis des Vilnius-Gipfels für die Ukraine."

Den größten Widerhall fand jedoch seine Aussage, dass das Schwarze Meer "zu dem gemacht werden sollte, was die Ostsee geworden ist – ein NATO-Meer". Kuleba fügte sogleich hinzu, dass er für eine "Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres" sei. Der Kreml hat bereits auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen den beiden unvereinbaren Begriffen "NATO" und "Entmilitarisierung" hingewiesen.

Der ukrainische Außenminister hatte offenbar vergessen (oder er weiß es vielleicht noch nicht), dass vor sechs Monaten eine kritische Infrastruktureinrichtung derselben NATO-Länder im "NATO-Binnenmeer" – wie er die Ostsee bezeichnete – in die Luft gesprengt wurde. Jetzt will er die gleiche "Entmilitarisierung" im Schwarzen Meer? Wessen Gaspipelines will er in die Luft jagen? Des NATO-Mitgliedes Türkei?

All diese beschönigenden Äußerungen über die Aufnahme der Ukraine in die NATO bereits auf dem Juli-Gipfel wurden von langjährigen Lobbyisten der euroatlantischen Integration von der "Europäischen Prawda" erklärt, die neulich ganz offen eine Art "dunkles Buch" für die Kiewer Beamten veröffentlichten. Darin heißt es unverblümt: "Für die ukrainischen Politiker ist es wichtig, die Erwähnung des MAP mit einem Tabu zu belegen." Die Begründung eines solchen Vorgehens ist primitiv, aber ziemlich unverblümt: "Fordere mehr ein, um zu bekommen, was du benötigst."

Hier fällt jedoch eine gewisse Diskrepanz zwischen der Position der ukrainischen und der US-amerikanischen Lobbyisten des Euro-Atlantizismus auf. Während in Kiew das Thema MAP tabu ist, fahren die langjährigen Verfechter des NATO-Beitritts der Ukraine aus dem Atlantikrat mit ihrer Linie fort. In fast jedem Beitrag versuchen sie die Verbündeten von der Notwendigkeit zu überzeugen, der Ukraine auf dem Juli-Gipfel den MAP zu gewähren.

Es zeigt sich, dass sich die westlichen Sponsoren der Ukraine in einer Zwickmühle befinden, da sie nicht wissen, wie sie die euroatlantischen Aussichten Kiews formulieren sollen, ohne dass es genau so aussieht, wie Kuleba es nicht möchte – in Form einer "130. Bestätigung" dieser Aussichten. Niemand, auch nicht die eifrigsten Verbündeten des Kiewer Regimes, wird die Ukraine noch in diesem Jahr in das Bündnis aufnehmen wollen, keiner von ihnen kann jedoch klar sagen, wie die neuen Versprechen an Kiew aussehen sollen.

Offensichtlich verfügt der Westen mit Ungarn über eine Art Notlösung. Denn Budapest wird traditionell für jede Verzögerung bei der Integration der Ukraine in die NATO verantwortlich gemacht. Aber damit Ungarn ein Veto einlegen kann, muss der Beschluss erst noch formuliert werden. Daher kommt es zu dieser Ungewissheit und Diskrepanz in der Haltung zum MAP zwischen Kiew und seinen Förderern. Daher kommen auch die extravaganten Äußerungen von Kuleba über "die inneren Meere der NATO", die selbst im Westen nicht ernst genommen werden.

Es sieht so aus, als ob wir bis Juli aus dem Munde der Kiewer Politiker immer wieder den gleichen Mist hören werden (man sagte ihnen ja, sie sollen mehr fordern, um zu bekommen, was sie benötigen). Und der Westen wird händeringend nach einer goldenen Formel suchen, um der Ukraine die Aufnahme in die NATO zu verweigern, allerdings in einer Weise, die eher nach Ermutigung als nach Ablehnung aussieht.

Wladimir Kornilow ist ein ukrainisch-russischer Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti. 

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