Meinung

Estland lässt die Inquisition wieder aufleben

Die Russophobie im Baltikum treibt ganz besondere Blüten. Da spielt sich der sozialdemokratische Innenminister des kleinen Estland als Großinquisitor und Theologe auf, und Wissenschaftler suchen ernsthaft nach einem "imperialen Gen" in der DNA von Russen.
Estland lässt die Inquisition wieder auflebenQuelle: Gettyimages.ru © Bilder der Geschichte/Universal Images Group

Von Michail Rostowski

Wir leben eigentlich im 21. Jahrhundert. Warum eigentlich? Weil offensichtlich nicht alle Staaten in ihm angekommen sind. Einige leben ungefähr im 16. Jahrhundert, mit seinen Religionskriegen, der Verfolgung von "Ketzern", der Inquisition und anderen Reizen einer scheinbar längst vergangenen Zeit. Und nein, ich spreche nicht von den Ländern, die im "aufgeklärten Europa" gewöhnlich als "rückständig" bezeichnet werden. Ich spreche von genau diesem "aufgeklärten" Europa – einem Land namens Estland.

Der estnische Rundfunk ERR berichtete neulich über die jüngsten Initiativen des Innenministers der Republik Lauri Läänemets, eines Sozialdemokraten:

"Läänemets erwartet von den Vertretern der estnisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in Estland, dass sie die Aktivitäten des Patriarchen Kirill als Häresie anerkennen und ihre Beziehungen zu Moskau abbrechen."

Sie sagen, das könne gar nicht sein, der Ausspruch müsse erfunden oder entstellt sein? Nichts dergleichen. Es erzählt der Chef des estnischen Innenministeriums selbst stolz, wie er die Vertreter der estnisch-orthodoxen Kirche unter Druck gesetzt hat:

"Wir haben noch einmal die Sicherheitsprobleme erklärt, die Estland nicht passen. Wir haben erklärt, welches Ergebnis Estland erwartet. Wir haben auch den Vertretern der Moskauer Kirche zugehört. (...) Wir haben auch über die verschiedenen Entscheidungen der orthodoxen Kirche auf der Welt und die in der Kirche geltenden Regeln gesprochen. Es gibt einen Kanon, der besagt, dass die Gemeinden im Falle von Häresie oder Irrlehre (der Kirchenoberen – d. Red.) eigenständige Schritte unternehmen können und ihre früheren Gelübde nicht einhalten müssen."

Nachdem ich diese erstaunlichen Aussagen gelesen hatte, beschloss ich, vor dem Schlafengehen die estnische Verfassung zu lesen. Und wissen Sie, es gibt viele interessante Dinge in diesem Dokument. Nehmen Sie zum Beispiel Artikel 40:

"Jeder hat Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit. Die Zugehörigkeit zu Kirchen und Religionsgemeinschaften ist frei. Es darf keine Staatskirche geben."

Und hier ist Artikel 41:

"Jeder hat das Recht, seiner Meinung und Überzeugung treu zu bleiben. Niemand darf gezwungen werden, sie zu ändern. (...) Niemand darf wegen seiner Überzeugungen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden."

Ich frage mich, ob der estnische Innenminister die Verfassung seines Landes kennt. Theoretisch, wenn er lesen kann, müsste er. Warum habe ich einen so seltsamen Vorbehalt gemacht – wenn er lesen kann? Der Punkt ist, dass die Vertreter der politischen Kreise Estlands große Probleme mit der Alphabetisierung haben – nicht nur mit der politischen Alphabetisierung, sondern auch mit der Alphabetisierung im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein Artikel auf dem estnischen Portal Delfi über eine "wissenschaftliche Debatte" von lokalen und eingeladenen "wissenschaftlichen Koryphäen" trägt den Titel "Russland und der Imperialismus – Entwicklungsszenarien". Im Artikel wird über den Redebeitrag von Borislaw Berjosa berichtet – einem ehemaligen Abgeordneten der Obersten Rada der Ukraine und ehemaligen Leiter der Informationsabteilung des Rechten Sektors*:

"Er glaubt, dass die Idee des Imperialismus in der russischen Version die Idee einer klassischen Metropolie ist. Und in diesem Fall ist die Haltung gegenüber anderen Staaten die Haltung einer Metropolie gegenüber Kolonien."

Eine Metropolie ist der Zuständigkeitsbezirk eines Bischofs, ein Territorium oder eine Stadt, die von einem Metropoliten geleitet wird. Und was der pensionierte (oder wahrscheinlich noch gar nicht pensionierte) Extremist des Rechten Sektors meinte, ist eine Metropole: der Kolonialstaat im Verhältnis zu seinen Kolonien, von ihm abhängigen Ländern.

Ich muss zugeben, dass die "estnischen Literaten" den Fehler recht schnell korrigiert haben. Als ich das Zitat noch einmal überprüfte, war die Begriffsverwirrung bereits behoben. Aber das machte den estnischen "wissenschaftlichen" Disput nicht weniger wild und mittelalterlich.

Es genügt zu sagen, dass die Teilnehmer dieser Aktion ernsthaft darüber diskutierten, ob ethnische Russen ein gewisses "Gen des Imperialismus" haben oder nicht.

Und hier ist ein weiterer "charmanter" Artikel auf derselben Website. Die Rubrik "Aus der Redaktion". Überschrift: "Die Ukraine und Estland haben Anspruch auf Geld vom russischen Aggressor". Das Schlüsselfragment:

"Es wäre vernünftig, wenn neben der Ukraine auch die Länder entschädigt werden würden, denen durch die Konfrontation mit Russland und die Unterstützung der Ukraine noch immer enorme Kosten entstehen, darunter Estland, das eine große Zahl ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen hat und sein letztes Hemd gibt, um die sich mutig verteidigende Ukraine über Wasser zu halten."

Erkennen Sie jetzt die Tiefe der estnischen politischen Verwilderung? Das Geld anderer Leute zu nehmen, sei richtig, meint man. Stehlen sei richtig. Ihr eigenes Grundgesetz zu verletzen – richtig. Es ist sei auch richtig, die Inquisition wieder aufleben zu lassen (falls es jemand vergessen hat, so hieß die Einrichtung, die im mittelalterlichen Europa Ketzer und Häresien bekämpfte). In einem solchen "Wunderstaat" scheinen die oben zitierten Aussagen des Innenministers nichts Außergewöhnliches zu sein. Sie werden als Norm wahrgenommen.

Ein Fragment aus meinem Lieblingsbuch meiner Kindheit – dem Roman der Gebrüder Strugazki "Es ist schwer, ein Gott zu sein":

"'Ich habe nicht versucht, mit Intelligenz zu beeindrucken', erwiderte Pater Keane mit Würde, 'das Einzige, was ich wollte, war, zum Nutzen des Staates zu eilen. Wir brauchen keine klugen Leute. Wir brauchen die Gläubigen. (...) Das Wesentliche sind die Grundregeln des neuen Staates. Sie sind einfach, es sind nur drei: der blinde Glaube an die Unfehlbarkeit der Gesetze, der unbedingte Gehorsam ihnen gegenüber sowie die sorgfältige Überwachung eines jeden durch jeden!'"

Das Buch handelt von dem fiktiven Land Arkanar auf einem fiktiven Planeten. Aber wie ähnlich ist es doch dem realen Land Estland!

* Der Rechte Sektor ist eine ukrainische Vereinigung radikaler nationalistischer Organisationen, die in Russland als extremistisch eingestuft und verboten wurde (Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Russlands vom 17.11.2014).

Übersetzt aus dem Russischen

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