Meinung

Die EU bereitet sich auf das unvermeidliche Ende vor

Zerfällt die EU? Die Anzeichen mehren sich – und US-Strategen planen schon für ein anderes Europa nach 2027. Nur in Russland mag man nicht so recht daran glauben.
Die EU bereitet sich auf das unvermeidliche Ende vorQuelle: Gettyimages.ru © Travel_Motion

Von Sergei Sawtschuk 

Ganz gleich, wie viele russische Publizisten und Analysten schreiben, dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen funktionalen und vor allem moralischen Gestalt und der Form mangelnder Eigenständigkeit dem Untergang geweiht ist – all diese Argumente stoßen bei den russischen "Europhilen" stets auf hochmütigen Spott. Das Hauptargument und – wie es ihnen scheint – das Totschlagargument sei, dass wir seit den noch nicht sehr lange zurückliegenden Zeiten der UdSSR nun schon vom Verfall des Westens hören, der jedoch nie eingetreten ist. Das "Wrack" ist immer noch da – in dem Sinne, dass Europa in Gestalt der EU immer noch für viele der Standard, das Maß und das unerreichbare Ideal ist.

Innerhalb der Europäischen Union ist man nicht so ignorant.

Neulich fand in Ungarn ein Kongress der Fidesz-Partei statt, auf dem der ungarische Ministerpräsident und Parteivorsitzende Viktor Orbán von der Tribüne aus sinngemäß Blitz und Donner gegen die EU warf. Lassen Sie uns einfach die wichtigsten Postulate aus seiner Rede an seine Parteifreunde und Mitbürger aufzählen:

  • Die Brüsseler Politik führt Europa in ein drohendes Chaos.
  • Innerhalb der EU gibt es immer weniger Menschen, die arbeiten, und immer mehr, die dem Staat auf der Tasche liegen möchten.
  • Die innere Ordnung wird von Tag zu Tag schwächer.
  • Die unkontrollierte Migration hat bereits ungewollte Folgen.
  • Die Finanzverschuldung Europas wächst stetig.
  • Die Kapitalflucht in die USA und die asiatischen Länder nimmt zu, was den Tod der europäischen Industrie bedeutet.
  • Brüssel verfolgt eine Politik des Isolationismus statt echter Diplomatie.
  • Jede abweichende Meinung wird unterdrückt.
  • Im Jahr 2030 wird Deutschland nur noch die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt sein, und das Vereinigte Königreich und Frankreich werden noch weiter zurückfallen

Die Menschen der älteren Generation in Russland und die im ehemaligen Ostblock generell müssen jetzt ein starkes Déjà-vu-Erlebnis gehabt haben. Viele der Thesen Orbáns können direkt aus den politischen Informationsstunden stammen, wie sie in sowjetischen Bildungs- und Produktionsstätten abgehalten wurden. Aber wir leben nicht mehr Mitte der 1980er Jahre, sondern am Ende des ersten Viertels des 21.Jahrhunderts. Außerdem werden die rebellischen Äußerungen vom Ministerpräsidenten eines Landes gemacht, das vor genau 20 Jahren erst dieser EU beigetreten ist, nachdem 80 Prozent der Bürger beim Referendum 2003 für den Beitritt zur Union gestimmt hatten.

Ja, es stimmt: Ungarn ist nicht das größte, reichste oder stärkste Land in Europa. Gemessen an der Bevölkerungszahl liegt es nur auf Platz 13, gemessen an der Fläche auf Platz 18, und Ungarn ist nach Polen das Empfängerland der zweithöchsten Finanzhilfen der EU.

Und genau das ist der Punkt. Es wäre verständlich, wenn eine solche verbale Eskapade von dem Regierungschef eines der reichsten und unabhängigsten Länder organisiert würde, das es leid ist, einen Haufen Schmarotzer durchzufüttern. Aber allein die Tatsache, dass ein offenkundig in der Defensive befindlicher Akteur der europäischen Politik die Rolle des Unruhestifters spielt und jede Zurückhaltung fallen lässt, zeigt deutlich, dass eben dieser Akteur nichts mehr zu verlieren hat. Die Lage ist so ernst, dass selbst ein drohender Ausschluss vom Haushaltstrog in Brüssel nicht ausreicht, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Um das Bild zu vervollständigen, sollte man einen Blick in die Slowakei werfen, wo die Mannschaft von Robert Fico sensationell die Regierungsgeschäfte übernommen hat und deren Funktionäre demonstrativ die EU-Fahnen aus ihren Büros entfernen. Im Hintergrund dieses Gesamtbildes sind auch noch die Wahlergebnisse in Deutschland zu beachten: Dort ist Olaf Scholz mittlerweile in wichtigen Bundesländern krachend gescheitert und hat einen historischen Negativrekord seiner Sozialdemokratischen Partei bei Wahlen errungen.

Die Bemühungen, die für jeden spürbare Realität zu leugnen – sei es von den Plutokraten in Brüssel oder von ihren Anhängern in Russland – sehen immer mehr wie der Versuch aus, einen Elefanten unter einem Taschentuch zu verstecken.

Es ist von grundlegender Bedeutung, dass westliche Quellen und alle möglichen Arten von Strategieschmieden den Zusammenbruch der Europäischen Union schon lange nicht mehr als gewisse Wahrscheinlichkeit, sondern als garantiertes Finale betrachten.

Der Guardian berichtet, dass nicht nur einzelne Länder, sondern die gesamte Eurozone in die Rezession rutscht. Dieser Prozess ist grundsätzlich nicht geeignet, bei den betroffenen Bürgern Freude auszulösen, vor allem wenn man bedenkt, dass die Talfahrt im nächsten Jahr nicht aufhören, sondern sich nur noch weiter beschleunigen wird.
Die kanadische gemeinnützige Stiftung McMUN (McGill Model United Nations) hält offiziell Konferenzen ab, auf denen das Schicksal Europas nach 2027 diskutiert wird. Wie unschwer zu erraten ist, wird dies das Jahr sein, das Beobachter aus Übersee als das letzte Jahr in der Geschichte der EU vorhersagen.

Bereits 2019 hat der European Council on Foreign Relations umfangreiche Meinungsumfragen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Österreich, der Slowakei, Griechenland, der Tschechischen Republik und Polen durchgeführt. Und schon damals, noch lange vor dem Verhängen von Sanktionen gegen russische Energieressourcen und vor all dem, wovon Viktor Orbán heute spricht, hielt die Mehrheit der Befragten den Zusammenbruch der Europäischen Union in einer Perspektive von 10 bis 20 Jahren für unvermeidlich. Die Ergebnisse der Umfrage wurden in Europa selbst äußerst ernst genommen – so sehr immerhin, dass die Europäische Kommission selbst einen Bericht von Ian Kearns, Autor des Buches "Collapse: Europe After The European Union", in Auftrag gab, in dem dieser die sechs wahrscheinlichsten Szenarien des Zusammenbruchs betrachtet.

Nach den Geboten des Genres sollte ein solcher Text eigentlich mit einem herzlichen und ergreifenden Satz enden. Aber mir kommt nur der uralte Witz in den Sinn, dass die Ukraine nicht von ihren europäischen Bestrebungen abgehalten werden sollte. Vielmehr sollte Kiew in dieser Angelegenheit sehr unterstützt werden, denn welcher Union die Ukrainer auch beitreten mögen, sie werden sie garantiert zum Scheitern bringen. Die Aufnahme der Ukraine als Vollmitglied der EU ist noch nicht vollzogen, aber die EU bereitet bereits ein Laken vor, worin sie sich einwickeln und zum Friedhof wanken kann.

Übersetzung aus dem Russischen und zuerst erschienen am 23. November 2023 bei RIA Nowosti.

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