Meinung

Russlands Außenpolitik im Wandel: Ein Überblick

Eine Außenpolitik, die den Schwerpunkt auf Kooperation setzt, nicht auf Dominanz, ist darauf angewiesen, Bündnisse verschiedenster Art zu schaffen. Entsprechend verlief die Entwicklung der russischen Außenpolitik seit 1991. Teil eins einer Analyse der russischen Außenpolitik.
Russlands Außenpolitik im Wandel: Ein ÜberblickQuelle: Sputnik © Witali Belousow

Von Alexander Männer

Teil 2 finden Sie hier

Die russische Außenpolitik und die aktive Präsenz des Landes auf der internationalen Bühne nehmen heute eindeutig einen zentralen Stellenwert in der Staatspolitik der Russischen Föderation ein. Sie sind geprägt durch das Erbe der Sowjetunion, die geografischen Gegebenheiten als größter Staat der Erde, den Status als Atommacht sowie die Rolle als weltweiter Großlieferant für Energieträger.

Die Entwicklung in der Weltpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts sowie die ökonomische Wiedererstarkung und die innere Konsolidierung Russlands erforderten von seiner Führung eine neue Herangehensweise. Die außenpolitischen Prioritäten wurden angesichts der wachsenden Rolle des Landes in den internationalen Beziehungen zu überarbeitet, seine globale Verantwortung wurde gestärkt, und man nahm die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wahr, sich nicht nur an der Umsetzung der internationalen Agenda zu beteiligen, sondern auch an ihrer Gestaltung mitzuwirken.

Außenpolitische Zielsetzung

Laut den offiziellen Angaben des Kreml richten sich seine außenpolitischen Bemühungen im Einklang mit der nationalen Sicherheit Russlands auf die Sicherung und Stärkung der Souveränität, die Aufrechterhaltung der territorialen Einheit des Landes, die Gewährleistung einer starken russischen Position innerhalb der Weltgemeinschaft und die positive Entwicklung des politischen, wirtschaftlichen, intellektuellen und geistigen Potenzials der russischen Bevölkerung.

Zugleich will man mehr Einfluss auf die globale Politik nehmen, um eine gerechtere und multilaterale Weltordnung zu schaffen, die auf Rechtsstaatlichkeit sowie einer gemeinsamen Grundlage für Problemlösungen beruht. Hervorgehoben werden sowohl die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, die als die wichtigste Organisation für internationale Beziehungen eine unumstößliche Legitimität besitzt, als auch die gleichberechtigten und partnerschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten.

Die Führung in Moskau betont, dass Russland auf Partnerschaften und ein sicheres Umfeld angewiesen ist, um seine stabile Position in der Weltpolitik angesichts der zunehmenden Herausforderungen zu gewährleisten und seine Ziele zu erreichen. Deshalb wolle man zum einen alles daransetzen, bestehende Spannungen und Konfliktherde in den angrenzenden Regionen und anderen Teilen der Welt zu beseitigen und neue zu verhindern. Zum anderen sollten gemeinsame Interessen mit anderen Staaten und Organisationen ausgemacht werden, um ein System von bilateralen und multilateralen Bündnissen, Allianzen oder anderen Zusammenschlüssen zu schaffen.

An dieser Stelle ist anzuführen, dass Russland bei seiner Politik die ehemaligen Republiken der Sowjetunion stets hervorgehoben hat. So werden diese 14 Staaten unter anderem als "nahes Ausland" bezeichnet, um ihre historische, kulturelle oder wirtschaftliche Verbundenheit oder auch die Abhängigkeit von Russland zu unterstreichen und um diese Länder als einen besonderen russischen Einflussbereich zu betonen.

Präsident Wladimir Putin hatte in diesem Zusammenhang die wirtschaftliche und politische Integration der Ex-Sowjetrepubliken, mit der Ausnahme der EU- und NATO-Mitglieder Litauen, Lettland und Estland, als ein zentrales Ziel der russischen Politik herausgestellt.

Reintegration des "nahen Auslandes"

Dass Moskau den Kurs auf die Reintegration des einst eng verflochtenen Sowjetstaates hält, ist nicht nur in den sicherheitspolitischen Konsequenzen der Auflösung der einstigen Supermacht begründet. Nicht zu vergessen ist, dass mit dem Ende der Sowjetunion auch jahrhundertealte Grundlagen für politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Beziehungen zerstört wurden. Die Folgen davon waren Bürgerkriege, territoriale und ethnische Konflikte sowie der soziale und wirtschaftliche Niedergang. Unter anderem wurden mehr als 25 Millionen ethnische Russen praktisch gegen ihren Willen von ihrer Heimat getrennt. Viele von ihnen fanden sich als "Nichtbürger" im "Ausland" wieder, wie etwa Teile der russischstämmigen Bevölkerung in den baltischen Republiken Lettland und Estland.

Putin bezeichnete den Untergang der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, was ihm in den westlichen Staaten viel Kritik einbrachte. Seine Landsleute sowie ein Großteil der ehemaligen Sowjetbürger weltweit stimmen ihm aber zu, da viele von ihnen das Ende der Sowjetunion ebenfalls als einen der bittersten Einschnitte in ihrem Leben empfinden und eine Annäherung der "Bruderrepubliken" gutheißen.

Dabei hatte Moskau den ersten Reintegrationsprozess paradoxerweise zu einem Zeitpunkt eingeleitet, als sich die Sowjetunion noch in ihrer Auflösung befand. Mit der Gründung der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) im Jahr 1991 hat man versucht, ein Abdriften der Teilrepubliken zu verhindern und sie als Union aufrechtzuerhalten. Dieser Verbund verzeichnete im Laufe der nächsten Dekaden politisch allerdings kaum Erfolge und ist mittlerweile beinahe bedeutungslos.

Ungeachtet dessen entstanden im Rahmen der GUS weitere Formate der Kooperation, die sich in unterschiedlichem Tempo auf dem Weg der Integration befinden und in Russland durchaus als Erfolg gewertet werden. So bildet Russland gemeinsam mit Weißrussland im Rahmen der "Russisch-Weißrussischen Union" seit 1999 faktisch einen Staatenbund, der heute im Kern eine Verteidigungs- und eine Wirtschaftsgemeinschaft bildet.

Ein weiteres von Moskau lanciertes Integrationsprojekt im postsowjetischen Raum ist die Schaffung der "Eurasischen Wirtschaftsunion" (EAWU), die neben Russland auch Weißrussland, Armenien, Kasachstan und Kirgistan als Mitglieder zählt. Dabei handelt es sich um einen Binnenmarkt mit einer Zollunion und den ersten größeren gemeinsamen Wirtschaftsraum für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeit seit dem Ende der UdSSR.

Ein wichtiges Instrument im sicherheitspolitischen Bereich der Integration ist die 1992 gegründete "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS). Ihre Mitglieder, Russland,Weißrussland, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan kooperieren unter anderem bei der Außenpolitik, der Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus, der Bekämpfung des Drogenhandels und im militärischen Bereich.

Kampf um die neue Weltordnung

Wie eingangs erwähnt, sieht sich Russland neben der Zusammenarbeit im postsowjetischen Raum vor allem in Bereichen der Weltpolitik großen Herausforderungen gegenüber. Dazu zählt in erster Linie der (geopolitische) Konflikt mit dem kollektiven Westen, allen voran den USA, der mit dem Krieg in der Ukraine und der antirussischen Sanktionspolitik vorläufig seinen Höhepunkt erreichte. Für Moskau geht es dabei um Einflusssphären, die nationale Sicherheit sowie darum, nach welchen Vorstellungen die künftige Weltordnung gestaltet werden soll.

Angesichts der Tatsache, dass mit der Intensivierung der außenpolitischen Aktivität auch der Ressourceneinsatz steigt, stellt sich für Russlands die Frage, welchen Einfluss auf die Weltpolitik es hinsichtlich seiner Interessen und Fähigkeiten als optimal betrachtet und wie dieser Einfluss langfristig gesichert werden kann.

Die Russen sind sich bewusst, dass man ein vernünftiges Maß an Ressourcen für sein Engagement im Ausland benötigt, um nicht die Fehler der Sowjetunion zu wiederholen. Darum versucht man, Alleingänge zu vermeiden, und agiert zum einen im Rahmen der Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation (WHO) und anderer internationaler Organisationen. Zum anderen geht Moskau verstärkt Kooperationen ein, um durch bilaterale und multilaterale Partnerschaften die globalen Verhältnisse zu ändern. Diesbezüglich hervorzuheben sind die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und die Staatengruppe BRICS, deren Gründungsmitglied Russland ist.

Russland und die "situativen" Allianzen

Gegenwärtig sind es jedoch die regionalen Herausforderungen, die ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmen und meist eine Lösung von streng begrenzten Aufgaben erfordern. Dies wirkt sich auf das Format von Kooperationen aus, denn man benötigt aufgrund des weitaus kleineren Ressourceneinsatzes und der begrenzten Verpflichtungen in diesem Fall kein komplexes Bündnissystem.

Stattdessen ist es sinnvoll, auf situative Partnerschaften zu setzen. Russische Experten sprechen in diesem Zusammenhang von der "Transformation von Allianzen", die eine Folge signifikanter Veränderungen der für das 20. Jahrhundert typischen Verhältnisse der Außenpolitik und damit auch die Strukturen der internationalen Beziehungen seien. Die "situativ" geschaffenen Allianzen haben den Vorteil, dass ihre Mitglieder nicht dazu verpflichtet sind, ihren Partnern nachhaltige Garantien zu gewähren. Man kooperiert nur in einem eng begrenzten Rahmen, andere Fragen sollten nicht von Bedeutung sein.

Ein aus russischer Sicht positives Beispiel dafür ist die vielschichtige Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei, die unter anderem den Konflikt in Syrien, die Erdgasversorgung Europas und die friedliche Lösung der Ukraine-Krise umfasst. Der Erfolg dieser Partnerschaft wurde zuletzt bei der Realisierung des sogenannten Getreidekorridors im Schwarzen Meer deutlich. Außerdem gewährleistet die Türkei seit Beginn der russischen Militärintervention in der Ukraine den europäischen Zugang zu Russland und gilt für Moskau als das Tor nach Europa, nachdem die EU die Flugverbindungen von und nach Russland unterbrochen hatte. Diverse EU-Staaten wiederum konnten mithilfe Ankaras ungeachtet der antirussischen Sanktionspolitik ihre Beziehungen zu Moskau teilweise aufrechterhalten.

Diese russisch-türkische Kooperation ist allerdings nicht unproblematisch, da diese Länder ungeachtet der Gemeinsamkeiten ihre eigenen Interessen haben und in diversen Fragen keine Einigung erzielen können. Dennoch hat diese Zusammenarbeit das Potenzial, sich künftig zu einer strategischen Partnerschaft zu entwickeln, falls der Nutzen für beide Seiten weiterhin erhalten bleibt. Entscheidend dafür ist aktuell nicht nur die außenpolitische Zusammenarbeit, sondern auch gemeinsame wirtschaftliche Projekte. Dazu zählen die Erdgasleitung Turkish Stream, die erhebliche Mengen russischen Gases nach Europa transportiert, der Bau des Atomkraftwerks Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste durch das Unternehmen Rosatom sowie der Erwerb des russischen S-400-Luftabwehrsystems durch Ankara. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere Aspekte, die dafür sprechen, dass die aktuell sehr engen Beziehungen zwischen Russland und der Türkei für eine lange Zeit aufrechterhalten werden können.

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