Versagende Sozialpolitik: Dichtung und Wahrheit im Armutsbericht
von Dagmar Henn
Ja, die Armut. Wenn man mal fantasiert, Merkel würde ernsthaft von der Arbeit der Regierung berichten (so, wie man das von Putin kennt zum Beispiel), dann kommt dabei etwas sehr Verdrehtes heraus. In etwa so:
"In den vergangenen Jahren ist es der Bundesregierung gelungen, Wohnungslosigkeit und Armut auf einem überzeugenden Niveau zu halten, wobei insbesondere im Bereich der Altersarmut ein überzeugender Durchbruch erzielt wurde."
So ist das nämlich hier, wo wir so gut und gerne leben. Zehn Jahre Wirtschaftswachstum und unten kommt nichts an. Gar nichts. Wie auch.
Die Berichterstattung zum Thema ist ein ganz besonderes Gebiet der Prosa. Kann man auch halbreale Dichtung nennen; halb, weil die Beziehung zur Wirklichkeit äußerst eingeschränkt ist und vor allem die Benennung von Ursachen streng untersagt.
Kleines Beispiel gefällig?
"War im Jahr 1995 noch jede dritte arbeitslose Person der Lage 'Mitte' zuzuordnen und nur jede siebte der Lage 'Armut', so veränderten sich die Größenordnungen bereits 2005 drastisch: Nunmehr war gut jede dritte arbeitslose Person in der Lage 'Armut' anzufinden, während nicht einmal mehr jede vierte der 'Mitte' angehörte. Diese Tendenzen verstärkten sich mit dem allgemeinen Rückgang der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2015, so dass in diesem Jahr knapp zwei Drittel aller Arbeitslosen der Lage 'Armut' angehört haben und nahezu alle anderen den angrenzenden Lagen bis zur 'Mitte'. Im Ergebnis lässt sich eine zunehmende Konzentration von Arbeitslosen in der Lage der 'Armut' konstatieren."
Ups. Wie ist das nur passiert? Erst ist ein Siebtel der Arbeitslosen arm, dann ein Drittel, und inzwischen zwei Drittel. Einfach so.
Es braucht nicht viel Hirnschmalz, um zu erkennen, dass da ein im Jahr 2005 eingeführtes Gesetz namens SGBII, besser bekannt als Hartz IV, eine Rolle gespielt hat. Ein Gesetz, das sich nicht selbst gemacht hat, sondern in einem Parlament namens Bundestag verabschiedet wurde. Die hier erwähnten Verschlechterungen sind eine Leistung der Politik, das war so gewollt.
Aber klar, tun wir so, als hätten wir es mit Naturgegebenheiten zu tun. Hübsch ist auch diese Variante: "Helbig und Jähnen finden in ihrer Untersuchung von 74 deutschen Städten mit mindestens 100.000 Einwohnern, dass die Segregation von einkommensarmen Haushalten spätestens seit dem Jahr 1995 signifikant angestiegen ist und der Prozess weiter voran schreitet."
Und er schreitet und schreitet, der Prozess. Hat natürlich gar nichts mit gar nichts zu tun, vor allem nicht mit den Mietobergrenzen, die für SGB II-Bezieher gelten und allerorts in den allerbilligsten Wohnraum zwingen, was dann – in Kooperation zwischen der unsichtbaren Hand des Marktes und der sich gern unsichtbar machenden der Politik – mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu führt, dass sich die Armen alle in einem Winkel sammeln.
Was man dann an anderer Stelle wieder bedauern kann, weil es ja schlecht für die Bildungschancen ist, wenn die benachteiligten Kinder unter sich bleiben... aber was kann man schon tun gegen die Natur?
Oder das hier: "Insbesondere für Haushalte mit geringen Einkommen (monatliches Netto-Einkommen von weniger als 1.300 €) stellt bezahlbare Energie eine Herausforderung dar. In dieser Gruppe lag der Anteil der Energieausgaben inklusive Kraftstoffen an den gesamten Netto-Konsumausgaben im Jahr 2019 bei 11,2 Prozent und signifikant über dem Niveau aller Haushalte (9,3 Prozent). (...) Derzeit werden die unteren Einkommensgruppen überproportional an einzelnen Kosten der Energiewende beteiligt. So beträgt die Kostenbelastung durch die EEG-Umlage für Haushalte aus dem unteren Einkommensdrittel durchschnittlich 1,08 Prozent ihres Einkommens, während sie im oberen Einkommensdrittel im Schnitt bei 0,49 Prozent liegt."
Das klingt doch irgendwie nett: "werden an den Kosten der Energiewende beteiligt". So nach mitmachen dürfen. Teilhabe. Na, und woher kommt die EEG-Umlage? Die muss irgendein böswilliger Gott vom Himmel geworfen haben... oder... nein, halt, die hat der Bundestag...
Die CO2-Steuer, die das gleiche nochmal macht, genauso gerecht wie die EEG-Umlage, nämlich gar nicht, ist noch nicht Bestandteil des Berichts. Aber keine Sorge, wenn der nächste Bericht fällig ist, wird auch sie irgendwie vom Himmel gefallen sein.
Aber weiter mit der Prosa. "In Deutschland ist nur ein sehr geringer Anteil der Bevölkerung von Wohnungslosigkeit betroffen, denn das gut ausgebaute Hilfesystem trägt dazu bei, dass Wohnungslosigkeit häufig abgewendet werden kann."
Vor einiger Zeit kursierten mal Schätzungen von einer Million Wohnungsloser in Deutschland. Dann bekamen die Wohlfahrtsverbände, die da schätzen, kalte Füße (oder vielleicht doch einen freundlichen Hinweis von der Regierung, dass die Zahl nicht hübsch sei) und verringerten die Schätzung auf 800.000. Also, nur mal so zur Erinnerung, die BRD hat offiziell 83 Millionen Einwohner. Da sind 800.000 schon ein ganzes Prozent.
Bei der Anzahl wäre nach dem bundesdeutschen Recht der 1960er Jahre schon Wohnraumzwangsverwaltung angesagt gewesen.
Nun, es wird ja ein neues Zählsystem eingeführt, in das dann nur noch die aufgenommen werden, die tatsächlich auf der Straße leben oder in Notunterkünften. Nachdem die Notunterkünfte ein begrenztes Fassungsvermögen haben und insbesondere wohnungslose Frauen eher bei irgendwelchen Bekannten unterkriechen, ist damit jetzt festgelegt, dass die Wohnungslosigkeit in Deutschland zukünftig genauso viele Menschen umfassen wird, wie in diese Unterkünfte passen. Das ist wie zu behaupten, nur fünf Finger zu haben, weil man nur bis fünf zählen kann.
Wäre jetzt interessant, bei welcher Schwelle diese Bundesregierung dann einen geringen Anteil von Wohnungslosen sieht. Bei fünf Prozent der Bevölkerung? Oder wann ihrer Meinung nach der Anteil hoch sei...
Es sollen bundesweit etwa zwei Millionen Wohnungen fehlen. Nur um dazu einen Maßstab zu geben – im Jahr 1946 waren es 5,7 Millionen auf dem Gebiet der späteren BRD. Da gab es zuvor allerdings einen Weltkrieg und die meisten Großstädte waren zerbombt. Zwischen 1950 und 1960 wurden dann tatsächlich 5,7 Millionen Wohnungen gebaut.
Ja, die vorhandene Wohnfläche ist heute weit größer als 1946. Aber sie ist sehr ungleich verteilt. Das zeigt der Armutsbericht auch, aber abgemildert. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person liegt bundesweit inzwischen bei 64 Quadratmetern. Bei hohem Einkommen liegt sie inzwischen bei 91,8 Quadratmetern; bei niedrigen Einkommen nur bei 48 Quadratmetern. Platz wäre also eigentlich da...
Praktisch gibt es in einer solchen Situation zwei Lösungen. Entweder den vorhandenen Wohnraum so verteilen, dass jeder eine gute Unterkunft hat, oder für mehr Wohnraum sorgen. Der Armutsbericht schlägt Trostpflästerchen vor, mal ein bisschen Wohngeld hier, ein bisschen Prävention der Wohnungslosigkeit dort.
Schließlich sind wir in dem Land, in dem wir gut und gerne leben, da kann es gar keine echten Probleme geben.
Übrigens, auch in diesem Armutsbericht sind die Alleinerziehenden so gut wie verschwunden. Das ist schon seit Jahrzehnten die gesellschaftliche Gruppe mit dem höchsten Armutsrisiko; und da hat auch mehr Kinderbetreuung und ein höherer Anteil der Alleinerziehenden, die arbeiten, nichts daran geändert.
Wie viele arme wohnungslose Alleinerziehende die BRD hat, gibt der Bericht übrigens nicht her. Schon allein deshalb, weil an den meisten Orten eine wohnungslose Alleinerziehende sehr schnell eine alleinstehende Frau ist, weil die Kinder in die stationäre Jugendhilfe verschwinden. Das löst natürlich gar nichts, aber wenigstens die Statistik ist aufgeräumt.
Das Grundproblem mit der Messung der Armut insbesondere in der BRD wird natürlich im Bericht auch nicht besprochen. Die Armutsgrenze orientiert sich immer am Median-, nicht am Durchschnittseinkommen. Das Medianeinkommen ist so definiert, dass genau je die Hälfte der Einkommen darüber und darunter liegen.
Wenn nun über einen langen Zeitraum hinweg nur ein geringer Teil des Wohlstandszuwachses überhaupt bei den Lohnempfängern landet, dann verändert sich auch der Median nicht. Das heißt, obwohl die unterste Gruppe der Bevölkerung im Verhältnis zur obersten immer weniger hat, wird das nicht als Armut sichtbar.
Das kann man sich so vorstellen wie eine hohe Säule, in der bis zu einer bestimmten Höhe Wasser ist. Die Wasseroberfläche ist der Median, und unten an einem Schwimmer auf der Wasseroberfläche hängt eine Schnur, die bis zu 60 Prozent der Wassersäule hinunterreicht. Das ist dann die Armutsgrenze. Die Oberfläche ändert sich nur, wenn unten mehr Wasser hineinkommt; wenn die Säule insgesamt höher wird, hat das auf den Median keinen Einfluss.
Zehn Jahre lang ist jetzt die Luftsäule gewachsen; die Einkommen der Wohlhabenden, das gibt auch der Armutsbericht zu, wuchsen um ein Vielfaches des Werts, um den die Einkommen der Ärmeren gewachsen sind. Die Ungerechtigkeit hat zugenommen. Die Armutsquote kann das aber nicht abbilden. Im Gegenteil. Wenn die untere Hälfte der Einkommen massiv sinkt (und das dürfte sich für die Lockdown-Zeit zeigen), dann nimmt die Armutsquote sogar ab, weil der Median fällt....
Armutsberichte sind also nur begrenzt hilfreich. Schon gar nicht, wenn von Bericht zu Bericht die Prosa weiter von der einfachen Feststellung einfacher Tatsachen abweicht. Vor allem, wenn es darum geht, wer diese Armut geschaffen hat. Denn es gilt nach wie vor, Armut ist behebbar, und es wäre wirklich angebracht, das auch zu tun, statt sie zu fördern, und dann Feststellungen zu treffen wie, dass "die überproportionale Zugehörigkeit zu den benachteiligten Lagen bei Alleinerziehenden auffällt, während sie faktisch nie in der Lage 'Wohlhabenheit' anzutreffen waren."
Das war schon im ersten Armutsbericht so, da brauchte man aber noch keinen Übersetzer dafür. Es ist der Bundesregierung eben gelungen, die Armut auf einem überzeugenden Niveau zu halten.
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