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Eine polnisch-ukrainische Konföderation wäre eine ernsthafte Provokation für Russland

Nach dem Ende der militärischen Sonderoperation besteht die Möglichkeit einer Vereinigung der Ukraine mit Polen. Das gab Präsident Wladimir Selenskij zu verstehen ‒ in Zukunft werde es keine Grenzen mehr zwischen den beiden Ländern geben. Eine ähnliche "Partnerschaft" gab es im 16. Jahrhundert innerhalb der Rzeczpospolita. Wie groß sind die Chancen für die Entstehung einer "Rzeczpospolita 2.0" und welche Risiken drohen Russland in diesem Fall?
Eine polnisch-ukrainische Konföderation wäre eine ernsthafte Provokation für RusslandQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO

Eine Analyse von Jewgeni Posdnjakow

Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij erklärte bei seinem Besuch in Warschau, es werde bald keine Grenzen mehr zwischen den beiden Staaten geben ‒ weder wirtschaftlich noch politisch noch historisch. Die Wochenzeitung Strana zitierte eigene Quellen mit der Aussage, Selenskijs Büro erörtere die Möglichkeit der Gründung einer Konföderation zwischen der Ukraine und Polen, einer Art "neuer Rzeczpospolita".

"Diese Idee scheint im Moment noch etwas exotisch zu sein. Dennoch stellt sie eine der Optionen dar, um eine wichtige, man könnte sagen, strategische Frage zu beantworten: Wie soll die Sicherheit der Ukraine gewährleistet werden, wenn der Beitritt unseres Landes zur NATO nach dem Krieg abgelehnt wird?", zitiert die Zeitung eine Quelle.

Interessanterweise gab es wiederholt Äußerungen Polens über seine Ambitionen hinsichtlich der Ukraine. Im Januar sagte der ehemalige polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, Warschau habe die Option gleich zu Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in Betracht gezogen, den westlichen Teil der Ukraine zu annektieren. Vom offiziellen Warschau wurden diese Worte zwar als "russische Propaganda" zurückgewiesen. Doch die Experten sind der Meinung, dass Sikorski einfach das gesagt hat, was die polnischen Behörden schon lange im Sinn haben.

Unterdessen sah sich die polnische Diplomatie Mitte März 2023 in einen weiteren Skandal verwickelt. Der polnische Botschafter in Paris räumte ein, die polnische Armee werde sich den russischen Streitkräften stellen müssen, sollte es zu einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte kommen. Später wurde die Aussage des Diplomaten, wenn auch ungeschickt, dementiert. Den Experten zufolge hat Warschau tatsächlich einmal mehr seine Pläne für die Ukraine-Krise verraten – und in dieser Frage weichen sie von denen der NATO-Partner ab, die eine Erweiterung Polens nicht wünschen.

Sollten sich die Ukraine und Polen tatsächlich vereinigen, woran die von der Zeitung Wsgljad befragten Experten wenig Zweifel haben, könnte es zu einer Mini-Version der Rzeczpospolita kommen, wie schon einmal zwischen 1569 und 1795. Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen umfassten damals die Gebiete des heutigen Polens, der Ukraine, Weißrusslands und Litauens.

Zuvor, als der polnische Präsident Andrzej Duda dem ukrainischen Präsidenten Selenskij den Vorschlag machte "die Kapitulation Russlands" in Perejaslaw zu unterzeichnen, warf die Zeitung Wsgljad einen detaillierten Blick auf die Retrospektive der Beziehungen zwischen Warschau und Kiew. Die Geschehnisse von 1569 und 1654 (die Perejaslaw Rada) sind den Polen noch deutlich im Gedächtnis. Dabei wird im Expertenkreis festgestellt, dass Polen de facto bereits einen ihr zugänglichen Teil der Ukraine in Besitz hat. Ob dies de jure noch geschehen wird, hängt von den Plänen der Amerikaner ab.

"Nicht ohne Grund leistet Warschau den ukrainischen Streitkräften (AFU) militärische Unterstützung. Als Gegenleistung verfügen die Polen über den Haushalt der Ukraine. So planen sie die Energieversorgung aus ukrainischen Atomkraftwerken, arbeiten an anderen Energie- und Verkehrsprojekten und erhalten eine gigantische Anzahl an Arbeitskräften in Form von Millionen von Flüchtlingen. Warschau zieht seinen Nutzen aus dem Konflikt in der Ukraine", sagte Sergei Zekow, Mitglied des Ausschusses für internationale Angelegenheiten des Föderationsrates.

Und er bemerkte weiter:

"Eine Kampfniederlage der AFU kommt Warschau ebenfalls zugute, wenn auch in geringerem Ausmaß. In einem solchen Fall ist die Westukraine selbst gewillt, Teil Polens zu werden, da sie einen vermeintlich europäischen Lebensstandard erwartet. Obwohl, in den ersten Jahren werden sich die Bewohner von der Haltung der Polen ihnen gegenüber schnell enttäuscht fühlen. Doch das ist ein anderes Thema. Somit ist es eigentlich egal, wie die Situation vorankommt. Polen wird in jedem Fall seine Vorteile daraus ziehen. Die Frage ist nur, in welchem Umfang und in welcher Größenordnung."

Der polnische Experte Stanisław Stremidłowski erinnerte daran, dass sich Duda bereits im Geiste Selenskijs geäußert habe, indem er vor einem Jahr erklärte, es gebe keine Grenzen zwischen den beiden Ländern. Der Experte dazu:

"Die Idee eines gemeinsamen polnisch-ukrainischen Staates ist in der polnischen Gesellschaft nicht besonders populär. Man fürchtet sich diejenigen Probleme zu vererben, die bei der Gründung der Rzeczpospolita entstanden sind. Im Falle einer Konföderation mit der Ukraine wird Polen vor zusätzlichen schwierigen Herausforderungen stehen."

Stremidłowskis Worten nach "saugen" die Polen auch ohne einer Vereinigung die "benötigten Ressourcen" aus der Ukraine, einschließlich der Arbeitskraft. Und nun wolle Warschau vor allem am Wiederaufbau des Landes verdienen und einen Anspruch auf ein Finanzierungspaket des Westens in Höhe von 10 Prozent der Gesamtkosten geltend machen, die mit mehreren hundert Milliarden Dollar beziffert werden. Der Experte führte weiter aus:

"Polen wünscht sich mehr Kontrolle über die lokale Verwaltung, in der Erwartung, dass Kiew weiterhin Teile des ukrainischen Territoriums kontrolliert. Sofern der Westen wirklich am Wiederaufbau des Landes interessiert ist, würde das Geld in den Bau von Straßen und Wohnungen, sowie in den Wiederaufbau von Industrie und Energie fließen. Und sollte Polen die Möglichkeit haben, die Regierung nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch über die lokale Selbstverwaltung zu kontrollieren, würden die meisten Aufträge nach Warschau gehen."

Dennoch bezweifelt Stremidłowski, dass Polen die Möglichkeit haben wird, im Falle einer Niederlage der AFU das "Niemandsland" nutzen zu können. Der Experte weist darauf hin, dass sich die polnische Armee noch ganz am Anfang ihrer Umstrukturierung befinde, praktisch keine Marine habe und die Luftwaffe "in einem beklagenswerten Zustand" sei. Aus diesem Grund werde Polen nur im Falle einer Initiative der westlichen Regionen der Ukraine "die Verantwortung für diese Gebiete übernehmen."

"Unweigerlich habe ich eine Assoziation mit dem Warschauer Vertrag von 1920 zwischen Józef Piłsudski und Simon Petljura. Damals versprachen die Polen Petljura Hilfe im Kampf gegen Sowjetrussland. Das Ganze mündete in den Ausbruch des polnisch-sowjetischen Krieges, eine Offensive polnischer Truppen bis nach Kiew, und endete mit der Unterzeichnung des Vertrags von Riga 1921, was die Teilung der Gebiete zur Folge hatte. Ich schließe eine Wiederholung dieser Situation nicht aus", so der Experte.

Seinen Worten zufolge erinnere das, was Selenskij tue, "eher an die Ereignisse vor einem Jahrhundert, als Petljura die Westukraine opferte, um Kiew für sich zu behalten, was ihm aber letztlich nicht gelang." Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, droht jede Annäherung zwischen der Ukraine und Polen die NATO noch näher an die Grenzen Russlands zu bringen, ergänzt der Politikwissenschaftler.

"Außerdem wird Polen, wenn es zu einer Föderation kommen sollte, kein mono-ethnischer Staat mehr sein und der ukrainischen Sprache wird man den Status einer zweiten Staatssprache einräumen. Dann erhalten wir eine Situation, in der erneut ein polnisch-ukrainisches Projekt entsteht, dem wir mit unserem eigenen russisch-ukrainischen Projekt begegnen werden müssen. Ein solcher Wettbewerb wird Herausforderungen mit sich bringen", warnt Stremidłowski.

Gleichzeitig bemerkt Fjodor Lukjanow, Chefredakteur von Russia in Global Affairs, die Konfiguration der internationalen Beziehungen verändere sich gegenwärtig so tiefgreifend, dass die Transformation von Bündnissen und Grenzen möglich werde. Er betont, dass die laufenden Prozesse an Dynamik gewinnen werden, was die historischen Parallelen mit der Rzeczpospolita und der Union von Lublin durchaus bedenkenswert erscheinen lässt. Der Politikwissenschaftler führte aus: 

"Fügt man noch den Eindruck von der zyklischen Natur der Geschichte und der Wiederholbarkeit ihrer Abläufe hinzu, den der Ukraine-Konflikt und die damit verbundenen Umstände hervorrufen, dann sollte man nicht so sehr über 'Unionen' und 'Gemeinwesen' lachen. Das Thema des Zusammenschlusses der heutigen Republik Moldau und Rumäniens ist gar keine theoretische Frage mehr, sondern eines der praktischen Szenarien."

Und er ergänzte:

"Im Allgemeinen ist klar, dass die europäische Integration, wie sie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestand, die derzeitigen Turbulenzen nicht überleben wird. Nach dem Krieg wird alles irgendwie anders gestaltet werden."

Alexander Nosowitsch, der Chefredakteur von Rubaltic.ru erklärte seinerseits:

"Wenn die Ukraine in den Grenzen der westlichen Territorien bestehen bleibt, könnte sie durchaus in den polnischen Staat eingegliedert werden. Allerdings ist es wichtig, einen Vorbehalt anzubringen: Dies wird nur geschehen, wenn die USA ein solches Endergebnis für besonders vorteilhaft halten. Grundsätzlich wird Washington mit jeder Integration des herrenlosen Landes in den Westblock zufrieden sein."

"Warschau wird den Wiederaufbau der Ukraine aus eigener Kraft nicht bewältigen und die Integration in Polen nicht stemmen können. Wir werden auf westliches Kapital zurückgreifen müssen, das sicherlich mit den Vereinigten Staaten koordiniert werden wird", so der Experte weiter.

"Selbstverständlich wäre das Zustandekommen einer neuen Konföderation in der Nähe der russischen Grenzen eine gewisse Herausforderung für Moskau."

"Zum einen würden in einem solchen Fall diejenigen Gebiete, die wir früher als 'antirussisch' bezeichneten, direkt von der NATO abgeschirmt werden. Das würde eine relativ ungestörte Fortsetzung der ideologischen Hetze in der Ukraine ermöglichen, welche bereits zu den tragischen Ereignissen und der darauf folgenden militärischen Sonderoperation geführt haben. So würde Warschau ein gutes Druckmittel gegen Russland erhalten", betonte Nosowitsch.

"Zweitens bekämen wir einen neuen Staat, in dem die Territorialstreitigkeiten 'jucken' dürften. Bestimmt wird sich Polen der Rhetorik zuwenden, wonach die meisten der neuen Regionen Russlands an Polen abzutreten sind. Ich glaube, dass die Region Cherson besonderer Aufmerksamkeit bedarf, denn niemand ist gegen eine Ausweitung der maritimen Grenzen", unterstrich der Experte. Und Nosowitsch resümierte:

"Doch auch Russland bekäme in einer solchen Situation bestimmte taktische Vorteile auf dem Gebiet der Diplomatie. Immer wenn man uns die Unrechtmäßigkeit der Integration von Mariupol oder Melitopol vorwirft, können wir vernünftigerweise auf die neuen Grenzen Polens verweisen und hinzufügen, dass Warschau kein moralisches Recht hat, derlei Annexionen vorzunehmen."

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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