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Doch keine Gegenoffensive? Kiew dämpft Erwartungen des Westens und bettelt um Waffen

Das ukrainische Außenministerium hat den Westen aufgefordert, die sogenannte ukrainische Frühjahrs-Gegenoffensive nicht als Wendepunkt im Konflikt mit Russland zu betrachten. Dies steht im krassen Gegensatz zu früheren Erklärungen.
Doch keine Gegenoffensive? Kiew dämpft Erwartungen des Westens und bettelt um WaffenQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld

Eine Analyse von Dmitri Bawyrin 

"Wir müssen uns mit allen Mitteln dagegen wehren, dass eine Gegenoffensive als die entscheidende Schlacht des Krieges angesehen wird." Dieser Aufruf des ukrainischen Außenministers Dmitri Kuleba, den er in einem Kommentar gegenüber der Financial Times äußerte, bedeutet einen entscheidenden Wendepunkt. 

Vor dieser Erklärung bestand die Informationslegende um die sogenannte Frühjahrs-Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte eben darin, dass sie im Gegensatz zu Kulebas Aufruf äußerst wichtig und kritisch sei und fast alles lösen würde.

Der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel sagte Ende Januar ausdrücklich: "Die nächsten Wochen und Monate sind für die Ukraine von entscheidender Bedeutung" – und deshalb sei "die Zeit gekommen, maximale Unterstützung zu leisten".

Mit Unterstützung waren vor allem schwere Waffen gemeint. Michel sagte nicht, dass es sich unbedingt um einen militärischen Gegenangriff handelt, aber was sonst? Seine Vagheit ist verständlich: In Westeuropa und sogar in den USA (anders als in Polen und im Baltikum) scheut man sich immer noch zu sagen, dass das Ziel der ganzen Unternehmung in der Ukraine die militärische Niederlage der russischen Truppen ist. Jeder versteht, dass es darum geht, aber man drückt sich immer noch davor, dies direkt zu sagen.

Dennoch ist die "Frühjahrs-Gegenoffensive" in den letzten zwei Monaten zum geflügelten Wort und zu einem der Hauptthemen in den Weltmedien geworden – sie wurde bis auf die Knochen abgenagt. Und es war keine Hysterie aus heiterem Himmel, denn die westlichen Länder haben ihre Hilfe für die Ukraine in den letzten Monaten stark aufgestockt, vor allem mit Munitions- und Rüstungslieferungen. Unter anderem stellten die NATO-Staaten sogar großzügig Panzer zur Verfügung, die sie Kiew zuvor verweigert hatten. Und davon gibt es nun etwa hundert Stück, und Panzer werden für die Offensive benötigt.

Parallel dazu durchlaufen ukrainische Offiziere und Piloten eine beschleunigte zwei- bis dreimonatige Umschulung in westlichen Ländern, als wäre seit Februar 2022 nicht schon fast ein Jahr vergangen, in dem dies ohne Eile hätte geschehen können.

Der öffentlich-politische Raum in den USA und der EU wurde vollgepumpt mit Erwartungen. Die Erwartung war, dass Kiew beweisen würde, dass die hohen Ausgaben nicht in einem schwarzen Loch verschwunden sind. Aber stattdessen kommt Kuleba heraus und sagt, was er sagt: Wir werden Ihre Wahrnehmung konfrontieren, denn dies ist keine Entscheidungsschlacht, nichts dergleichen. Senken Sie Ihre Erwartungen, alle haben noch einen langen Weg vor sich.

Das ist sehr dreist, wenn man bedenkt, dass die ukrainische Seite diese Wahrnehmung und diese überzogenen Erwartungen selbst geschaffen hat. Und nun, als aus Waffenlagern der NATO die "Frühjahrsniederlage der feindlichen Truppen" herausgepresst wurde, bittet er darum, von der ukrainischen Armee nicht das Unmögliche zu verlangen.

Allerdings war dies merkwürdigerweise nicht die dreisteste Äußerung aus der Ukraine an diesem Donnerstag. Energieminister German Galuschtschenko schlug vor, dass westliche Energieriesen wie Shell und ExxonMobil einen Teil ihrer Supergewinne mit der Ukraine teilen sollten. Denn die Ukraine hat etwas mit der Energiekrise zu tun, die diese Supergewinne verursacht hat, also ist es nur fair, sie daran beteiligen zu lassen. 

Im Großen und Ganzen haben beide Erklärungen dasselbe Ziel und unterliegen derselben Taktik – der Betteltaktik. Die Kiewer Behörden brauchen wirklich eine Menge auf einmal, haben aber als Gegenleistung absolut nichts zu bieten. Um die Ressourcen zu gewinnen, bleiben dann nur Bitten, Ermahnungen, Zupfen am Ärmel, Drohungen, Anschuldigungen, Vorwürfe – also die ganze Palette professioneller Bettler. 

Versprechungen des Unerreichbaren – reicher Freier, der Vormundschaft der Götter und Geister, der militärischen Niederlage der russischen Truppen – funktionieren ebenfalls gut. Schwere Not kann zum Aufführen auch weit erstaunlicherer Shows bewegen.

Ein Hut, der in einem NATO-Kreis herumgereicht wird, kann eine beträchtliche Summe einbringen – die schon erwähnten hundert Panzer zum Beispiel. Aber die Ukraine ist immer noch ein großes Land, ihre Wirtschaft ist zerrüttet, ihre Armee erleidet schwere Verluste an Männern und Ausrüstung, und ihre Zukunft ist ungewiss. Ein Staat, vor allem ein Staat, der in groß angelegte Kampfhandlungen verwickelt ist, braucht keine einmaligen Almosen, sondern eine ständige systematische Versorgung.

Daher beginnt die Kiewer Diplomatie, nachdem sie das akute Versorgungsproblem erstmals gelöst hat, die öffentliche Meinung an den Gedanken zu gewöhnen, dass die Ukraine vom Westen auf lange Zeit, möglicherweise auf Lebenszeit, gefüttert wird. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn der sprichwörtliche "Frühjahrs-Gegenangriff der ukrainischen Streitkräfte" mit dem angeblichen Ziel, einen sogenannten Landkorridor zur Krim abzuschneiden, zerschlagen wird oder gar nicht erst stattfindet.

Aber Zweiteres ist unwahrscheinlich; zu viel wurde im Westen auf diese "Gegenoffensive" gesetzt, gemessen sei es im baren Geld oder im politischen Einfluss. In Russland sollte man nicht einmal den Gedanken zulassen, dass alles nur ein "Tambourin-Tanz" war und die Panzer der ukrainischen Armee nur für die Schönheit da sind: Zu hoch könnte der Preis für eine Unterschätzung (des Gegners) sein.

Mit einem massiven Angriff ist jederzeit zu rechnen, sobald sich der Boden durch den Frühjahrsschlamm ausreichend verfestigt hat. Wahrscheinlich an mehreren Fronten gleichzeitig, um später die Ressourcen dort einzusetzen, wo es möglich ist, ein Loch in die russische Verteidigung zu schlagen. Und es gibt bereits Anzeichen dafür, dass die Ukrainer eine große Anzahl von gepanzerten NATO-Fahrzeugen in Richtung der russischen Stellungen in der Region Saporoschje ziehen.

Niemand in der EU-Führung, außer hoffnungslos naive Menschen, könnte jedoch glauben, dass dieser "Gegenangriff", wie immer er auch aussehen mag, alle Aufgaben lösen könnte, die die ukrainische Militärführung sich gestellt hat – zum Beispiel die Kontrolle über die Krim wiederzuerlangen. Die kommenden Ereignisse können die Konfiguration der Front in die eine oder andere Richtung verändern, aber den Konflikt nicht so lösen, wie es sich Moskau oder Kiew wünschen. Es wird mit Sicherheit eine weitere lange Periode mit lokalen Zusammenstößen, der Akkumulation von Kräften und Positionsspielen der ukrainischen Streitkräfte vor allem aus der Verteidigung heraus folgen. All dies wird ebenso erhebliche Ressourcen erfordern.

Leider werden sie sehr wahrscheinlich gefunden werden, und Selenskij, Kuleba und Co. werden mit ihrem Klagelied erhört. Die Hauptakteure in der EU haben bereits deutlich gemacht, dass sie sich, wenn nicht für immer, so doch für lange Zeit mit der Fütterung Kiews abgefunden haben. Zum Beispiel hat Deutschland der Ukraine bis 2032 15 Milliarden Euro portionsweise zur Verfügung gestellt, und Frankreich hat sich verpflichtet, die Munitionslieferungen systematisch zu erhöhen – zuerst um die Hälfte, dann sogar um noch mehr. 

Kuleba hat insofern recht, dass ein "Gegenangriff" keine grundsätzliche Lösung bringen wird. Sein Scheitern wird zweifellos ein starkes Argument dafür sein, die laufenden Hilfsprogramme für die Ukraine neu zu verhandeln, da sie sich als unzureichend gezeigt haben. Dies kann die Lieferketten nach einem eventuellen Ausstieg einzelner Länder zum Abbruch bringen. Der Konflikt wird jedoch größtenteils von einigen wenigen großen NATO-Akteuren angeheizt, und die restlichen stellen Komparsen dar, deren Unkosten immer weiter steigen. 

Es scheint, dass ein Kurswechsel Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs entweder einen radikalen Wechsel der Führungseliten erfordert (diese haben schon in den sauren Apfel gebissen, sich öffentlich verpflichtet – und können sich nicht mehr zurückziehen) oder, was effektiver wäre, einen radikalen Wechsel der Führungseliten in den USA (aus denselben Gründen) als dem zentralen Organisationskomitee des Konflikts auf Seiten des Westens.

Das Problem mit dem zweiten Szenario ist, dass die USA selbst wenig oder gar kein Problem haben. Angesichts der Superprofite der Energiewirtschaft (der ukrainische Energieminister zählte 200 Milliarden Dollar pro Unternehmen) und der verlockenden Aussicht, die europäische Industrie nach Amerika zu verlagern, ist die Ukraine keine so große Belastung für ihren aufgeblähten und an Stellvertreterkriege gewöhnten Haushalt.

Die eigentliche Entscheidungsschlacht dieses Konflikts ist also der Kampf gegen die eigennützige amerikanische außenpolitische Doktrin. Die Chancen der Europäer, diese Schlacht zu gewinnen, sind nicht viel besser als die der ukrainischen Armee, den russischen Streitkräften die vom Westen so erhoffte Niederlage zuzufügen. 

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschien beim Wsglyad. 

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