Europa

Botschafter Melnyk leugnet Mitschuld ukrainischer Nationalisten an Massaker an Polen und Juden

In einem Interview hat der ukrainische Botschafter Andrei Melnyk den OUN-Anführer und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera gegen alle Vorwürfe verteidigt. Er hat es auch abgelehnt, sich von ihm zu distanzieren, und bezweifelte die Echtheit der vorgelegten historischen Belege.
Botschafter Melnyk leugnet Mitschuld ukrainischer Nationalisten an Massaker an Polen und JudenQuelle: www.globallookpress.com

von Wladislaw Sankin

Eigentlich hat der medial omnipräsente ukrainische Botschafter Andrei Melnyk von seiner Bandera-Verehrung nie ein Hehl gemacht. Der faschistische Anführer der ukrainischen Nationalisten von OUN und Nazi-Kollaborateur wurde vom Nürnberger Tribunal schließlich nicht verurteilt, und die Bundesrepublik bot ihm Asyl. Heute gilt er in den deutschen Medien trotz nachgewiesener Gräueltaten seiner Anhänger lediglich als "umstrittene Figur".

Aber dass die Bandera-Verehrung bei dem Botschafter so tiefsitzend und fast irrational ist, wurde erst nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem YoutuberTilo Jung klar. Am Ende seines Teils (den zweiten Teil übernahm der Journalist Hans Jessen) des insgesamt dreistündigen Gesprächs hat er ihn – nach den Ausführungen des Botschafters, dass Russland nun ein faschistisches Land sei und die Ermordung von Wladimir Putin "eine Option" sei – zu seinem Verhältnis zu Stepan Bandera befragt.

Jung kam zu dem Interview gut vorbereitet und las eine Reihe von Fakten und Zitaten vor, die eigentlich keinen Zweifel daran lassen sollten, dass die OUN-Führung in der Ukraine ein faschistisches, monoethnisches Regime installieren wollte und dafür die Notwendigkeit einer ethnischen Säuberung von "Juden, Polen und Moskowitern" in Kauf nahm. Der Blogger betonte, dass dies keine "russische Propaganda" sei und inzwischen zum Allgemeinwissen unter Historikern gehöre. 

Es gebe "keine Belege, dass Banderas Truppen hunderttausende Juden ermordet haben", widersprach ihm Melnyk. Bandera sei "kein Massenmörder" von Juden und Polen gewesen. "Ich werde dir heute nicht sagen, dass ich mich davon distanziere, und das war's."

Das bis dahin eher vertraulich geführte Interview änderte sich schnell in ein Streitgespräch: 

Jung: "Es gab mehrere Massaker an Polen, durchgeführt von Bandera."

Melnyk: "Es gab auch auf gleiche Weise Massaker der Polen gegenüber der Ukraine ... Das war ein Krieg."

Jung: "Das macht es ja nicht besser."

Melnyk: "Wollen Sie das politisieren?"

Jung: "Aber hat der Staat Israel unrecht, dass 800.000 Juden auch von Bandera ..."

Melnyk: "Israel ..."

Jung: "Denken die sich das aus?"

Melnyk: "Ich weiß nicht, was die sich ausdenken ... aber wir reden über Bandera, und wir reden über ..."

Jung: "Aber die ganze Welt erkennt an, dass Bandera an der Ermordung von Hunderttausend Juden beteiligt war."

Melnyk: "Nein, das stimmt nicht ... Es gibt keine Belege, dass Bandera-Truppen Hunderttausende Juden ermordet haben."

Die Beteiligung der Bandera-Anhänger und sonstigen militanten Nationalisten am Holocaust und anderen Verbrechen kann man in der Tat nicht mit der systematischen und industriell durchgeführten Judenvernichtung der Hitler-Nazis gleichsetzen. In der Regel beteiligten sie sich an blutigen Pogromen mit Tausenden Opfern und übernahmen bereitwillig als Hilfspolizisten im Dienste der Besatzer die schmutzigste Arbeit der Massenerschießungen und der sonstigen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung oder den Kriegsgefangenen. Der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe sagte unlängst in einem Interview: 

"Die Zusammenarbeit [zwischen Hitler-Nazis und OUN] im Holocaust funktionierte einwandfrei. OUN-Mitlieder schlossen sich der ukrainischen Polizei im Distrikt Galizien und Wolhynien an. Sie und ebenso viele 'gewöhnliche' Ukrainer halfen den deutschen Besatzern, 800.000 Juden in der Westukraine zu ermorden. Der OUN kam das entgegen, weil es ein Teil ihres Plans war, die Ukraine in ein ethnisch homogenes Land zu verwandeln."

Solche Anschuldigungen hält der Botschafter für ein "russisches "Narrativ":

"Das ist das Narrativ, das die Russen bis heute durchsetzen, und das in Deutschland, in Polen und auch in Israel Unterstützung findet."

Jung: "Denken sich die jüdischen Gemeinden das alles aus?"

Melnyk: "Ich weiß nicht, woher sie diese Daten nehmen, aber ich bin bereit, mit den jüdischen Gemeinden darüber sachlich zu reden – wenn sie nicht nur das wiederholen, was wir seit Jahrzehnten hören: Bandera war ..."

Jung: "Es gab Flugblätter, als die Deutschen reingekommen sind in die Ukraine, da hieß es: 'Volk, das musst du wissen, Moskoviter, Polen, Ungarn und Juden, die sind deine Feinde. Vernichte sie. Das musst du wissen. Deine Führung, dein Führer Stepan Bandera'." 

Melnyk: "Was für Flugblätter sind das?"

Jung: "Das ist doch ganz klar, und ich frag mich ..."

Melnyk: "Also ich, ich werde dir heute nicht sagen, dass ich mich davon distanziere ... und das war's."

Jung: "Das ist ja deine Entscheidung, ich frage mich nur ..."

Melnyk: "Das kannst du nicht verstehen ..."

Jung: "Ich verstehe nicht, wie man jemanden als Helden bezeichnen kann, der gleichzeitig Massenmörder von Juden und Polen war."

Melnyk: "Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen, er war kein Massenmörder."

Noch lange diskutierten die beiden über Bandera und seine Rolle im Zweiten Weltkrieg. Melnyk zufolge wurde Bandera von Stalin als "Sündenbock" unter sehr vielen ausgewählt, was am Ende auch den Deutschen in die Hände gespielt habe. Er blieb bis zum Ende bei seinem Standpunkt. 

Warum das so ist, blendete der ukrainische Botschafter zuvor selbst ein, als Jung ihn über seine Biographie ausfragte. Seiner Mutter zufolge erhielt er von seinem Vater seinen Vornamen zu Ehren des früheren OUN-Anführers Andrei Melnyk. Zuvor hat der Journalist ihn gefragt, ob es Zufall sei, dass er genauso hieß wie ein "Offizier" aus dem Zweiten Weltkrieg – Andrei Melnyk. 

"Andrei Melnyk, den Sie jetzt meinen, er war einer Anführer von OUN-UPA. OUN war politischer Flügel und UPA militärischer Flügel. Und er war einer der moderaten Anführer. Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater mich so nennen wollte, weil er wie viele Ukrainer und Ukrainerinnen Freiheitskämpfer war", sagte der Botschafter. 

Auch Stepan Bandera sei für viele Ukrainer der Inbegriff des Freiheitskämpfers für die Unabhängigkeit der Ukraine, der in "einer schwierigen Umgebung" versucht habe, seine Ziele zu erreichen. Der Botschafter erzählte im Interview auch die Geschichte seines Onkels, der als Jugendlicher und Helfer der in den ersten Nachkriegstagen operierenden Untergrund-Terroristen in der Sowjetunion zur langjährigen Verbannung nach Sibirien verurteilt wurde. Er stellte ihn als Opfer eines "totalitären Regimes" dar. 

Andrei Melnyk gilt in der Geschichtsforschung in der Tat als ein – im Vergleich zu Bandera – moderaterer OUN-Anführer einer älteren Generation von Aktivisten, die noch im Ersten Weltkrieg (als Soldaten in der Regel auf Seiten Österreich-Ungarns) gekämpft hatten. Aber genauso wie Bandera stand er jahrelang im Dienste des deutschen Militärgeheimdienstes "Abwehr", und seine Anhänger stellten diverse Einheiten der Schutzmannschaften zusammen, die in den besetzen Gebieten die blutige Arbeit der Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung übernahmen. Und auch er würdigte Adolf Hitler zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im gleichen Wortlaut wie Bandera. Nachdem die Deutschen dem Plan Banderas zur Errichtung eines Ukrainischen Staates eine Absage erteilt hatten, soll sich am 5. Juli Melnyk direkt an Hitler gewandt haben: 

"Das ukrainische Volk, dessen jahrhundertelanger Kampf um seine Freiheit in der Geschichte anderer Nationen seinesgleichen sucht, unterstützt die Ideale des Neuen Europa von ganzem Herzen. Das gesamte ukrainische Volk ist bestrebt, an der Verwirklichung dieser Ideale mitzuwirken. Wir, die alten Freiheitskämpfer der Jahre 1918-1921, bitten darum, dass wir uns zusammen mit unserer ukrainischen Jugend [gemeint ist die Generation von Stepan Bandera, der im Jahre 1941 32 Jahre alt war] am Kreuzzug gegen die bolschewistische Barbarei beteiligen dürfen.

Wir bitten darum, Schulter an Schulter mit den Legionen Europas und unserem Befreier, der deutschen Wehrmacht, marschieren zu dürfen, und bitten darum, eine ukrainische Militärformation bilden zu dürfen."

Auch er forderte – genauso wie Stepan Bandera – in den Flugblättern den Tod für seine Feinde. Laut russischem Historiker Alexander Djukow werden die Worte "Tod den jüdischen Handlangern, den Kommunobolschewiken!" diesem Andrei Melnyk zugeschrieben. 

Melnyk wurde schließlich erlaubt, eine 2.000 Mann starke Formation "Bukowinski Kuren" zu stellen. Diese folgte den Hitler-Truppen in das besetze Gebiet und beteiligten sich später an den Massenerschießungen in der Kiewer Schlucht Babi Jar. Im Unterschied zum Bandera-Flügel der OUN blieb der Melnyk-Flügel im Dritten Reich weitgehend legal und stellte viele spätere Kämpfer für die SS-Division "Galizien" bereit. 

Es bleibt noch anzumerken, dass Stepan Bandera, der angeblich "für viele Ukrainer" ein Held sei, sich niemals auf dem Territorium der Ukraine aufgehalten hat. Er lebte auf dem Territorium Österreich-Ungarns, Polens, des Dritten Reichs und der Bundesrepublik Deutschland. Ähnliches gilt auch für Andrei Melnyk, der ebenso im Staat Österreich-Ungarn geboren wurde. Das Ende seines Lebens verbrachte Melnyk in Kanada.

Medienecho

Die Versuche des ukrainischen Botschafters, den Nationalistenführer weißzuwaschen, blieben den deutsche Medien zumindest nicht verborgen. Am Ende einer eher neutral gehaltenen Meldung stellte dpa fest: 

"In der Ukraine wird besonders seit dem Regierungssturz von 2014 ein Kult um Stepan Bandera und Vertreter der von ihm geführten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) betrieben. Er gilt als maßgeblich verantwortlich für die Ideologie des radikalen Flügels der Organisation. Hunderte Straßen wurden nach Bandera und anderen OUN-Vertretern benannt.

Die von OUN-Mitgliedern geführten nationalistischen westukrainischen Partisanen führten 1943 in Wolhynien ethnisch motivierte Vertreibungen durch. Dabei wurden Zehntausende polnische Zivilisten teils bestialisch ermordet."

Die Regierungssprecherin Christiane Hoffmann hat den Streit während des Interviews auf ihrem Twitter-Kanal als "sehenswert" empfohlen. Mit dieser Bezeichnung hat sie zumindest den Beitrag von Tilo Jung weiterverbreitet. Ob sie die Angriffslustigkeit des Fragestellers oder die "geschickte" Verteidigungsstrategie des Interviewten damit besonders wertschätzen wollte, bleibt unklar. 

Mit seinem Twitter-Beitrag wollte Tilo Jung selbst eigentlich jeglichem "propagandistischem Missbrauch entgegenzuwirken". Gehört zu diesem "Missbrauch" auch unser Beitrag? Jedenfalls ist es so, dass sich wohl der Botschafter Melnyk nach seiner Offenbarung im deutschen medialen Kontext eher weiter gestärkt als geschwächt fühlt. Am nächsten Tag polterte er medial wieder in gewohnter Manier gegen eine Initiative zum Waffenstillstand:

"Nicht schon wieder, what a bunch of pseudo-intellectual loosers Ihr alle Varwicks, Vads, Kluges, Prechts, Yogeshwars, Zehs & Co. sollt euch endlich mit euren defätistischen 'Ratschlägen' zum Teufel scheren. Tschüß"

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